Sibelius 7, das einzige Expertensystem für professionellen NotenSatz, läuft auf einem britischen RiscPC namens Acorn. Zuerst einige Anmerkungen zum Rechner.

Acorns neuer StrongARM RISC-Chip ermöglicht atemberaubende Geschwindigkeiten mit dem Betriebssystem RISC OS 3.6 (32-Bit-Multitasking). StrongARM-Chips verbrauchen zudem weniger Strom als Intel-Chips im Stand-By-Betrieb. Das Betriebssystem, praxiserprobt durch den Einsatz an nahezu allen britischen Schulen, bietet leichte Bedienbarkeit (Drag&Drop auf allen Ebenen). Klar, mit Intel ›gates‹ auch, nur mit StrongARM geht’s eben viel besser. Acorns ›Intel-outside-PC‹ hat deutlich die Nase vorn. Dabei ist Acorn voll kompatibel zur PC-Welt (z.B. IDE- oder SCSI-Medien).

Auch Atari TOS, BSD/Unix und DOS/Windows95 sind im Multitasking-Betrieb einsetzbar. Für rund 550 DM ist zum Beispiel eine Intel-Steckkarte (5×86-133 MHz) erhältlich. Acorn ist ein Modulrechner, den man beliebig ausbauen kann, etwa das Towergehäuse, weitere ARM-Prozessoren oder SCSI-Medien.

Ein Expertensystem wie Sibelius unterscheidet sich von gemeiner Software darin, daß es ein Programm für Problemlösungen ist, welches das Fachwissen und die Schlußfolgerungen von Experten simuliert. Informatiker sprechen von Wissensrepräsentationen und Ableitungsstrategien. Genau dies bietet Sibelius, indem es die Stichregeln des NotenSatzes beherrscht und vieles automatisch ausführt.

Eigenes Expertenwissen (Merke: nicht die Software macht den Experten, sondern umgekehrt) wird meist nur noch zur Endkontrolle und für kleinere Korrekturen angewandt. Dies bietet einen enormen Zeitvorteil gegenüber anderen Produkten, die allerdings auch keine Expertensysteme sind.

Trotz Vektorgraphik ist der Bildaufbau rasend schnell (0,1 s). Die Partitur (bis 128 Systeme) wird ständig in Echtzeit neu formatiert. Doch Sibelius erreicht seine schnelle Verarbeitungsgeschwindigkeit bereits auf älteren Rechnern (ab RISC OS 2), etwa dem A310 oder A3000. 1 MB Arbeitsspeicher reichen völlig aus, da RISC OS vom ROM aus operiert. RAM, ROM und VRAM sind per Maus konfigurierbar. Sibelius 7 benötigt selbst nur 496 KB RAM. Als Testgerät stand ein RiscPC 700 (ARM 710) zur Verfügung.

Wer intensiv mit anderer Software gearbeitet hat, erkennt erst die wahren Vorteile von Sibelius. Viel Zeit benötigt normalerweise der Einzelstimmenausdruck von Partituren, da man jede Stimme neu formatieren muß, sowie graphische Zeichen wie Bindebögen, Phrasierungszeichen und Dynamikangaben nachbearbeiten muß. Sibelius löst dies in wenigen Sekunden und kopiert jeweils Überschriften, Tempobezeichnungen und sonstige Texte, die für alle Stimmen gelten.

Hervorstechend ist die einfache Bedienung des Systems. Ob man Noten per Maus ediert oder per MIDI-Tastatur einspielt, stets kommt man schnell und leicht ans Ziel. Für schnelle Übersicht sorgt der Bildschirm-Radar. Eine Besonderheit ist die »Flexi-time-Methode«, die selbst bei molto rubato-Spiel ein lesbares Notenbild ›real-time‹ erstellt. Nachträgliche Quantisierung ist passé, zu hören ist das eingespielte Ergebnis.

Die MIDI-Funktionen in Kürze: 64 MIDI-Kanäle, GM-Standard, Proteus, freie Definitionen (z.B. XG) möglich. Eine einzigartige Stärke ist der Espressivo-Algorithmus, der die Phrasierung und die Dynamik modifiziert. Edierte Noten kann man von meccanico bis molto espressivo in fünf verschiedenen Varianten anhören, die gerade in den espressivo-Arten fast gespenstisch wirken, da man meint ›echte‹ Musiker zu hören.

Sibelius reagiert beim Abhören auf musikalische Dynamikangaben und Textzusätze wie »Spiel leiser« in Englisch, Französisch, Italienisch und Deutsch. Komfortabel sind auch die Hall- und Balance-Einstellmöglichkeiten. So kann man verschiedenste Halleffekte (trocken bis Kathedrale) anwählen und die Instrumente auf einem virtuellen 360-Grad-Radius positionieren. Weitere Effekte aus angeschlossenen MIDI-Geräten sind integrierbar.

Sibelius bietet auch, von 25 verschiedenen Text-Styles bis zur Fußnotenverwaltung, eine gute Textverarbeitung. Eine weitere Spezialität ist die Definition von »House-Styles«. Nach Belieben kann man auf rund 100 Funktionen zurückgreifen und so seine Partitur selbst (etwa Notenschlüssel, Taktangaben, Probezeichen, Taktzahlen, Binde- und Phrasierungsbögen) gestalten und – jederzeit abrufbar – abspeichern.

Eine sinnvolle Einrichtung ist auch die »Double-Prism-Methode«, die automatisch die verschiedenen Stimmen einer Partitur selbst bei komplexer Rhythmik ausrichtet. Sibelius berücksichtigt die Anforderungen z.B. von Klassikern, Jazzern, Avantgarde-Komponisten oder Filmkomponisten großzügig.

Selbst manche Eigenheiten von Komponisten sind mit eingeflossen. Für die Notation von Vorzeichen kann man auch das »Bartók- und Messiaen-System« anwenden. Ferner ist es möglich, Mikrointervalle (1/4-, 1/6- und 1/8-Tonsystem), etwa wie der Komponist Lutosławski zu edieren. Einem Experten zuträglich wäre das abrufbare System des ›Vaters der Mikrotonalität‹ Alois Hába (1/4-, 1/3-, 1/6- und 1/12-TonSystem), das leider fehlt.

Ähnliches gilt für die mittelalterliche Quadrat- und Mensuralnotation, für die ich keinen vollständigen Zeichensatz finden konnte. Sibelius betont, an weiteren Zeichensätzen zu arbeiten; es bleibt also zu hoffen. Immerhin sind einige Ligaturen und auch Lauten-Tabulaturen ›on board‹.

Hábas System und die NotationsFormen des Mittelalters kann man allerdings mit dem »Symbol-Editor« selbst gestalten. Dieser eignet sich auch für die immensen, nicht mehr zu überblickenden Anforderungen der zeitgenössischen Musik, so daß man also bestens zurecht kommt. Die rhythmische Komplexität (Polymetrik, Polyrhythmik etc.) der zeitgenössischen Musik bereitet Sibelius übrigens keinerlei Probleme.

Die Druckausgabe ist von exzellenter Qualität. Es werden vom Nadeldrucker bis zum Linotype-LichtSatz-Drucker alle gängigen Modelle unterstützt. Die Konvertierung in EPS- oder Draw-Dateien zur Weiterverarbeitung in DTP-Programmen oder zur Ausgabe in Postscript-Druckern ist ohne weiteres möglich. Der Ausdruck ist dabei von 10% bis 999% skalierbar.

Bei Sibelius vermisse ich die Unterstützung des NotenSatz-Formats NIFF. Während im MIDI-Format vieles unpräzise (v.a. n-tolen) oder gar nicht transportiert wird und man deshalb die Partitur wieder rekonstruieren muß, bleiben im NIFF-Format etwa Tonarten, polyphone Strukturen, Balkengruppierungen und graphische Zusätze wie Artikulationszeichen, Verzierungen oder Dynamikangaben erhalten. Die ›echten‹ enharmonischen Verwechslungen im MIDI-Format sind mit NIFF vorbei.

Es konnten nur wenige Besonderheiten angesprochen werden, im Gesamturteil verdient Sibelius das Prädikat ›besonders empfehlenswert‹. (MSp)

Testbericht zuerst veröffentlicht in: PianoMAG II/97, S. 24-25