Das »Brahms-Jahr 1997« bot im April auch der Musikwissenschaft die Gelegenheit, sich im Rahmen eines Kongresses mit dem Komponisten erneut auseinanderzusetzen und neue Forschungsergebnisse der Öffentlichkeit zu präsentieren. Innerhalb einer Woche wurden in der Hochschule für Musik und Theater Hamburg 27 Referate innerhalb von neun Sektionen gehalten, die um fünf öffentliche Vorträge und eine Abschlußdiskussion ergänzt wurden.

Zur Kammermusik von Brahms äußerte sich Siegfried Kross, der nachweisen konnte, daß in Brahms’ Cello-Sonate Nr. 1 op. 38 weniger Bach- oder Schubert-Einflüsse, als vielmehr thematische Arbeit im Vordergrund steht. Hans Kohlhaase führte am Klavierquartett Nr. 2 op. 26 ein lyrisches und ein heiteres Charaktermotiv im Thema vor. Friedhelm Krummacher verdeutlichte am Streichquartett Nr. 3 op. 67 die werk- und gattungsgeschichtliche Reflexion. Peter Petersen unterzog die 51 Klavierübungen WoO 6 und die Vier Klavierstücke op. 119 einer rhythmischen Analyse, die deren Komplexität im Verhältnis Harmonik und Metrum aufzeigte.

Zur Aufführungsgeschichte und Aufführungspraxis referierte Michael Musgrave über Chorwerke mit einem Plädoyer für die Aufnahme des Deutschen Requiems op. 45 von Roger Norrington. Volker Scherliess sprach sich zur Frage von Tempo und Charakter in der Instrumentalmusik eher für schnellere Tempi und heitere Charaktere aus, die helfen könnten, das Klischee vom schwermütig-norddeutschen Brahms zu überwinden. Allerdings, so schränkte er ein, seien die Metronomangaben nicht authentisch, sodaß Fragen offen blieben.

Mit der Klaviermusik von Brahms befaßte sich Camilla Cai, die für die Ungarischen Tänze WoO 1 zeigte, daß Brahms die Musik der Roma gekannt haben muß und daß die Tänze als eingefrorene Improvisationen anzusehen sind. Detlef Kraus spürte am Beispiel der Variationen und Fuge über ein Thema v. G. F. Händel op. 24 Streichertechniken und Streicherklängen nach. Imogen Fellinger konnte die Klavierkompositionen op. 116, entgegen anderer Meinungen, als tatsächlich späte Werke vorführen.

Ein Editorisches Roundtable behandelte die neue Johannes Brahms Gesamtausgabe (JBG) und die Briefsammlung August Walter. Michael Struck berichtete über Aufgaben und Probleme der JBG und Robert Pascall gab einen Werkstattbericht seiner Neu-Edition der Symphonie Nr. 1 op. 68 im Rahmen der JBG. Wolf-Dieter Seiffert zeigte die in alten Brahms-Ausgaben ungenauen Crescendo- und Decrescendogabeln als ein Editionsproblem der JBG. Renate Hofmann stellt den vom Brahms-Institut der Musikhochschule Lübeck neu erworbenen Briefwechsel zwischen Brahms und Walter, der 500 Briefe umfaßt, vor.

Brahms’ Verhältnis zu musikgeschichtlichen Aspekten war Thema der fünften Sektion. Hans Joachim Marx zeichnete ein Porträt vom Musikwissenschaftler Brahms, der als Sammler von Autographen und als Herausgeber von Noteneditionen hervortrat. Bernhard Stockmann zeigte an Brahms’ Generalbaßaussetzungen Händelscher Kammerduette, daß deren einfache Faktur als eine Art Notbehelf angesehen werden kann, die Rückschlüsse auf eine damals noch vorhandene Generalbaßpraxis zulassen.

Die Vokalmusik mit Klavier war Thema dreier Vorträge. Virginia Hancock berichtete über Brahms, Daumer und die Lieder und Gesänge op. 23 und 57. Georg Friedrich Daumers Gedichte dürften Brahms aufgrund ihres erotischen Gehalts fasziniert haben, der diese wohl an Clara Schumann adressierte. Heinrich W. Schwab sah in Brahms einen eher konservativ orientierten Komponisten, dessen Rückgriff auf kontrapunktische Techniken er am Beispiel der Lieder Liebe und Frühling I op. 3/2 oder Mein wundes Herz op. 59/7 veranschaulichte. Harmut Krones zeigte analytisch, wie Brahms harmonische Symbolik und musikalische Rhetorik zur Textausdeutung des Liedes Auf dem Kirchhofe op. 105/4 einsetzte.

Öffentliche Vorträge, die jeden Kongreßtag abrundeten, widmeten sich Fragen der Aufführungspraxis, Ästhetik, Biographie und Persönlichkeit von Brahms. Robert Pascall plädierte für eine historisch-informierte Aufführungspraxis, Ludwig Finscher befaßte sich mit der Kunstanschauung von Brahms im Rahmen von Kunst und Leben, Constantin Floros pointierte seine neuen Forschungsergebnisse (siehe PianoMAG I/97) in fünf Thesen, Otto Biba betonte die Einbindung von Brahms in das Musikleben der Stadt Wien, Reinhold Brinkmann verwies auf Brahms’ Verhältnis zu den Malern, insbesondere zu Adolph Menzel.

Als künftige Aufgaben der Brahms-Forschung kann man betrachten: Erstens, die Edition der JBG, welche die Fehler der alten Druckausgaben bereinigen will, und so zu einem neuen, authentischen Brahmsbild – etwa im Konzertsaal – verhelfen kann, zweitens, eine damit verbundene historisch-informierte Aufführungspraxis, die beispielsweise im Sinne von Brahms Natur- statt Ventilhörner verwendet und drittens, die verstärkte Einbindung von Brahms in seine Zeit, nachdem Werk und Persönlichkeit bereits gut erforscht sind. Hier kann die Rezeptionsforschung einen wichtigen Beitrag leisten.

Kongreßbericht zuerst veröffentlicht in: PianoMAG, II/97, S. 14