Diesmal möchte ich einen in der musikwissenschaftlichen Literatur viel diskutierten Fall behandeln: Das Klavierstück Opus 19, 2 von Arnold Schönberg. Es gehört zum Zyklus Sechs Kleine Klavierstücke Opus 19 (1911) und ist der expressionistischen, sog. ›atonalen‹ Phase zuzuordnen.

Schönberg, der übrigens kein Pianist war, hat sich in dieser Phase von der Tonalität verabschiedet, zunächst atonikale (grundtonlose und tonartenfreie) Musik geschrieben und später, aus dieser Erfahrung heraus, seine Methode mit »zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen« entwickelt.

Seine Klavierwerke können als markante Meilensteine dieser Entwicklung betrachtet werden. Den Anfang bilden, aus dieser Perspektive betrachtet, die Drei Klavierstücke Opus 11 (1909), gefolgt vom Zyklus Sechs Kleine Klavierstücke Opus 19 (1911), bis hin zur Sammlung Fünf Klavierstücke Opus 23 (1920-23). Der Walzer Opus 23, 5, gilt als Schönbergs erste Zwölftonkomposition. Komplett zwölftonreihentechnisch ist die Suite für Klavier Opus 25 (1921).

Nahezu die gesamte musikwissenschaftliche Literatur zu Schönbergs ›atonaler‹ Phase betrachtet diese gerne als Paradebeispiel für atonikales Komponieren, verbunden mit dem Diktum vom negativen Komponieren, was besonders für die aphoristischen Stücke von Opus 19 gelte. Weiterhin habe er sich hier von Formmodellen der Tonalität verabschiedet, sowie neue Ausdrucksmöglichketen erschlossen.

Merkwürdigerweise zeigen nahezu alle mir bekannten Analysen zu Opus 19, 2 das genaue Gegenteil der zu Recht erwähnten allgemeinen Beschreibungen. So werden dann wieder Tonarten herausgelesen und funktionsharmonische Begriffe (Tonika, SubDominante, Dominante) rehabilitiert.

Abgesehen davon, daß die zeitgleich abgeschlossene Harmonielehre Schönbergs ignoriert wird, ist eine derartige analytische Hilflosigkeit schon verwunderlich. Die ›Analysen‹ arbeiten mit veralteten Hilfsmitteln, die für atonikale Musik eben gerade nicht mehr gelten, somit diese nicht erklären können. Allen Fortes »pitch-class set-theory« bietet eine interessante Alternative.

Arnold Schönberg forderte für die Analyse von »Zwölftonkompositionen«, daß es notwendig sei zu zeigen, »was es ist« und nicht, »wie es gemacht ist«. Diese Unterscheidung, übrigens schon in seiner Harmonielehre geäußert, zeigt ein weiteres Problem der Analyse auf, da sich viele ›Analytiker‹ auf die Beschreibung von strukturellen Details beschränken, jedoch das, was der Komponist damit ausdrücken wollte, nicht erfassen, falls sie überhaupt soweit denken sollten.

Die Form zu diskutieren, Akkorde oder Zwölftonreihen aufzuzählen ist nur eine Seite der musikalischen Medaille. Eine andere, zugegebenermaßen weit schwierigere Aufgabe der Analyse ist die ›Was es ist-Frage‹. Sie kann allein mit der »Methode musiksemantischer Analyse« von Prof. Dr. Constantin Floros beantwortet werden, einer Synthese aus verschiedensten Analyseperspektiven (»Das Ganze ist mehr als die Summe der Einzelteile«).

Meine Analyse, die hier nur angedeutet werden kann, kam einerseits zu dem Ergebnis, daß Opus 19, 2 atonikal erklärbar ist (»wie es gemacht ist«), andererseits konnte ich bereits einige Indizien liefern, die auf ein esoterisches Programm oder eine musikalische Botschaft hinweisen (»was es ist«).

Im Stück zeigen sich ausschließlich atonikal geführte Terzen, sodaß man von einer ›Emanzipation der Terz‹ sprechen kann, die analog zu Schönbergs »Emanzipation der Dissonanz«, eine solche der Konsonanz bedeutet.

War die Terz einmal das Paradeintervall für tonale Musik, so ist sie hier völlig emanzipiert. Es sind bereits alle zwölf Töne, wenn auch nicht reihentechnisch, feststellbar. Weiterhin hat Schönberg Zahlensymbolik und Tonbuchstabensymbolik eingearbeitet. So konnte ich als erster nachweisen, daß Schönberg im letzten Takt seinen Nachnamen (es-c-h-b-e-g) »hineingeheimnist« hat. (MSp)

Artikel (leicht verändert) zuerst veröffentlicht in: PianoMAG III/96, S. 20. Eine breitere Darstellung der hier angedeuteten analytischen Ergebnisse erschien unter dem Titel »Metamorphose per Anamorphose. Zur Emanzipation der Terz in Schönbergs Klavierstück op. 19, 2«, in: Musik als Lebensprogramm. Festschrift für Constantin Floros zum 70. Geburtstag, hrsg. v. Gottfried Krieger und Matthias Spindler, Frankfurt am Main-Berlin-Bern-Bruxelles-New York-Wien 2000 (Peter Lang), S. 199-212. Eine umfassende Studie befindet sich in Vorbereitung.